Zimmer 212

 

Morgen kommt sie zu Besuch. Das erste mal seit langer Zeit, dass ich Sie wieder sehe. Ich hatte mich schon beim ersten Treffen mit Ihr verknallt. Irgendwas hat Sie in mir ausgelöst. Ich kann es nicht erwarten, dass Sie endlich wieder auftaucht. Ein ganzes Wochenende werden wir zusammen verbringen dürfen. Fragt nicht, wie ich das hinbekommen habe. Doch erst muss ich diesen Arbeitstag überstehen.

„Ja, Herr Kinear? Was brauchen sie denn?“ Der nette Herr aus Zimmer 212 hatte geläutet und nun betrat ich sein Zimmer um nach ihm zu sehen.

Seit etwas einem halben Jahr arbeite ich nun schon in diesem Altersheim. Auch wenn es hart scheint, Menschen bis ins intimste zu pflegen, so macht es doch immer wieder Freude zu sehen wie dankbar diese für liebevolle Zuwendungen sind. Es ist einfach ein besonderes Gefühl, Pflegebedürftigen das zu geben was sie wirklich benötigen.

„Helfen sie mir! Bitte helfen sie mir!“, er schnauft ungewöhnlich laut heute. „Bitte! Bitte helfen sie mir. Bleiben sie da! Bleiben sie bei mir!“ Ich blicke in die Augen des Bewohners. Sie sind gelb verfärbt. Das muss von irgendeiner Krankheit kommen die er hat. Leider kenne ich mich als Pflegehelfer zu wenig mit diesen Dingen aus. Ich frage mich was ich helfen kann. Höchstwarscheinlich beruhigt er sich schon wieder. Ich spreche ihm etwas Mut zu: „Das wird schon wieder Herr Kinear. Beruhigen sie sich etwas!“ - „Bitte! Ich bekomme keine Luft, ich kann nicht mehr atmen! So helfen sie mir doch!“

Ich verlasse das Zimmer um die zuständige Fachkraft zu verständigen. „Herr Kinear atmet sehr schwer. Vielleicht schaust du kurz nach ihm...“

Es ist schon ein wenig anstrengend mit solchen Situationen umzugehen. Die Bewohner werden viel zu schnell nervös sobald sich deren Zustand minimal verändert. Mittlerweile bin ich das gewöhnt, reagiere gelassen auf solch hypochonderische Anfälle.

„Hey, komm bitte mal aufs Zimmer von Herrn Kinear! Mach schnell!“ Die Fachkraft ruft nach mir. Er atmet schwerer als noch gerade eben. Ist es womöglich etwas ernsthaftes? „Bleib bei ihm. Halte seine Hand oder so und sprich mit ihm. Er muss sich irgendwie beruhigen. Der Notarzt ist auf dem Weg.“

Wie bitte? Der Notarzt ist auf dem Weg? Ist es wirklich so schlimm? Meine Kollegin verlässt das Zimmer. Ich soll seine Hand halten? „Herr Kinear, beruhigen sie sich. Es wird alles wieder gut. Versprochen! Versuchen sie an etwas schönes zu denken!“ Ich bin innerlich ganz durcheinander. Er ringt um luft. Was ist jetzt das beste, was ich tun kann? Was soll ich machen. Ich versuche seine Hand zu nehmen, mit ihm zu beten. Doch ich bin durcheinander. Er kämpft. Was soll ich tun? Oh Gott, was soll ich tun. „Bitte! Helfen sie doch!“

Der Notarzt betritt das Zimmer. Genauer gesagt sind es drei Leute. Plötzlich atmet Herr Kinear nicht mehr. Wiederbelebungsmaßnahmen werden eingeleitet. Jedoch vergeblich. Ich sehe das erste mal in meinem Leben einen Menschen auf dessen Brust eingeschlagen wird, damit er wieder atmet. Verstörender Anblick. Ich denke an Sie. Ich versuche es. Ich muss mich irgendwie ablenken. An etwas anderes denken als an den Tod der mich gerade mit einem hämischen Grinsen anblickt.

Dann versuche ich andere Bewohner des Altenheims zu versorgen. Es wird Zeit ein paar davon zu Bett zu bringen. Ich mache meine Arbeit gewissenhaft, während ich den nächsten Tag kaum erwarten kann. Weg von diesem Horror, der mich soeben noch überkommen hatte. Weg von Tod und Kampf ums Leben. Habe ich zu Leichtsinnig reagiert? Hätte ich die Gefahr sofort erkennen müssen? Was, wenn er wegen ein paar Minuten, in denen ich seine Atembeschwerden nich ernstnahm, sterben musste?

All diese Gedanken helfen mir nicht mehr. Ich habe ihm direkt in die Augen gesehen.

 

Ich sah den Kampf. Ich sah das Leid. Wie soll ich damit bloß umgehen? Ich sah den Tod. Er stand vor mir und verspottete mich. Und ich ließ es einfach geschehn...