Gestohlene Jugend

 

 

Sie ist so schön. Selbst jetzt in dieser ausweglosen Situation. Selbst jetzt, wo all dieser Schmutz an ihr klebt und ihre Wangen von eingetrockneten Tränen überdeckt sind.

Wieso denke ich in solch einer Situation nur an Sie? Ist es dieses innere Gefühl, dass ich ziemlich bald tot sein könnte? Vielleicht will ich mich nur von meiner Angst ablenken. Und ich durchstehe Todesängste. Ängste vor Schmerzen. Angst davor in meinem eigenen erbrochenen zu sterben wie der Mann der einen halben meter von mir vor ein paar Stunden hier in diesem Wagon zu boden ging. So muss die Hölle aussehen. Ein Ort der unerträgliche Gerüche in sich trägt, beklemmend eng ist und kein Ende dieser Lage vermuten lässt. Ohne Hoffnung, jemals wieder das Licht der Sonne zu sehen.

 

Wir wurden vor ein paar Tagen abgeholt. Ich war gerade auf dem Weg zu den Sharons, einer Metzger Familie der Stadt, die recht gut mit der meinigen befreundet ist. Als Juden haben wir hier in Deutschland unsere eigene kleine Art von Gesellschaft. Zumindest kannte ich es schon von klein auf so, dass Juden vorwiegend mit Juden und deutsche mit deutschen befreundet waren. Das gehörte sich so, auch wenn es die ein oder andere Ausnahme gab.

Seit meinem 12. Geburtstag vor etwa 5 Jahren hatte sich eine Menge getan. Politisch schien sich ein „Gewitter“ anzubahnen, seit dieser Adolf Hitler an die Macht kam. Mir waren die Konsequenzen dieser Herrschaft nur nie so richtig bewusst. Ich machte mir viel mehr Gedanken wie ich IHR meine Liebe gestehen konnte. Rahel Sharon, das schönste jüdische Mädchen des Viertels. Wir sind zusammen aufgewachsen, haben schon im Sandkasten miteinander Burgen gebaut. Ich kannte sie meiner Meinung nach ziemlich gut. Ich wusste, dass sie gerne in der Isar Schwimmen ging und auch ein enormes Interesse für Kunst hatte. Und an schulfreien Tagen besuchte sie immer wieder gerne den alten Herrn Reindl, einem deutschen Metzger der es uns jüdischen Kindern immer wieder ermöglichte etwas Schinken essen. Wenn das unsere Eltern wüssten. Rahel machte gerne solch verbotene Sachen. Und gerade das mochte ich so an ihr. Nicht direkt das sie ein wenig rebellisch war, nein, die Lebensfreude die sie dabei ausdrückte. Die Abenteuerlust auch Dinge zu tun, die nicht gerade erlaubt waren. Dadurch, dass ihre Familie zu den reicheren jüdischen Familien in der Gegend gehörte, trug sie zudem immer die schönsten Kleider die es in unseren Ort zu kaufen gab. Darin wirkte sie wie eine Prinzessin. Eine Prinzessin die nicht wirklich Interesse an mir zeigte. Sie schien den Nachbarsjungen Ludwig mehr zu mögen als mich. Oder vielleicht bildete ich mir das bloß ein Ludwigs Gesicht werde ich jedenfalls nicht so schnell vergessen, als Rahels gesamte Familie in den LKW geladen wurde. Es kam alles so plötzlich.

Ich war gerade auf den Weg zu den Sharons als vor deren Haustüre ein großer LKW mit einigen Uniformierten Deutschen der SS auftauchte. Sie zwangen die komplette Familie in den Transporter zu steigen. Ich wusste nicht wohin sie geführt werden sollten oder aus welchen Grund sie verhaftet wurden.

Ludwig stand nur am Straßenrand und verfolgte die Szene die sich gerade abspielte. Dann flüsterte er seinem besten Freund der gerade neben ihm stand, etwas ins Ohr, woraufhin dieser kurz grinsen musste. Sie konnten doch keine Witze reissen in solch einer Situation. Sehen die beiden den ernst der Lage nicht oder sind sie einfach nur dumm?

 

Später als ich wieder zu Hause war, legte ich mich erschöpft in mein Bett. Ich musste den Tag ersteinmal verarbeiten. Ich war ganz durcheinander. Die Blumen die ich heute für Rahel gepflückt hatte warf ich in eine Ecke meines Zimmers.

Und dann wurden wir auch abgeholt. Plötzlich stand ein LKW mit deutschen Soldaten auch vor unserer Haustüre. Man nannte uns keinerlei Grund für unsere Verhaftung. Nicht einmal der Zielort unserer Fahrt wurde uns gesagt. Mit dem LKW wurden wir an den etwa 5 Kilometer entfernten Hauptbahnhof gefahren und irgendwie kam es dazu, dass ich vorn meiner Familie dort getrennt wurde. Es schienen nur jüdische Familien verhaftet worden zu sein. Sie alle mussten am Bahnhof in Wagons einsteigen. Ich wurde zufälligerweise genau in den gleichen Wagon geschoben in dem auch Rahel und ihre Familie untergekommen waren. Doch ich konnte mich angesichts der Höllenfahrt die uns nun erwartete nicht wirklich darüber freuen. Auch wenn ich nicht wusste wie schrecklich diese drei Tage wirklich werden würden.

 

Ohne Nahrung oder Zwischenstopp mussten wir eng zusammengepfercht hier verweilen. Ich kannte viele der Personen die mit mir hier waren. Es waren alles Juden aus meiner Umgebung. Im Wagon gab es nicht einmal einen Platz an dem man sein Geschäft verrichten konnte. Es war unglaublich demütigend. Ich verkniff mir deshalb die ganze Fahrt den Toilettengang, wenn man das hier so nennen konnte, da es ja keine Toilette gab. Was hatte ich Glück, dass ich nicht wirklich den Drang dazu hatte mich zu entleeren.

Der Geruch im ganzen Wagon war unerträglich. Es roch penetrant nach menschlichem Schweiß und Urinierten. Und in all diesem Mist, nach all diesen leidvollen Stunden und Tagen konnte ich gerade nur an Sie denken. Ich würde sie am liebsten in meinen Armen halten, sie trösten. Werde ich noch Gelegenheit dazu haben? Wieso mussten wir nur hier sein? Was haben wir alle denn verbrochen?

Ich begann an der Existenz Gottes zu zweifeln. Wieso lies er so etwas nur zu? Ich dachte wir wären das von ihm auserwählte Volk. Wieso konnte ich nicht in einem anderen Universum leben. Einen Universum in dem Juden mit Respekt behandelt werden?

Ich stellte mir innerlich noch einmal vor wie es gewesen wäre wenn ich Ihr die Blumen hätte geben können. Wenn wir gemeinsam Spazieren gegangen wären und ich meinen ersten Kuss bekommen hätte. Ob ich mich das überhaupt getraut hätte oder es soweit gekommen wäre?

Ich glaube, angesichts der Lage in der ich mich gerade befand war diese Frage ziemlich unwichtig.

Und trotzdem schossen diese Gedanken in meinen Kopf.

Gerade in diesem Augenblick hielt der Zug plötzlich an und die Türen des Wagons in dem ich saß öffneten sich. Das Licht der Sonne strahlte in meine Augen, die da sie so lange in die Dunkelheit blicken mussten, erst einmal schmerzten. Frische Luft strömte von außen herein. Im Vergleich zur Hölle die wir alle die letzten Tage durchlebten, kam uns das Licht vor wie das Licht des Himmels.

 

Und obwohl ich gerade eben noch alle Hoffnung aufgeben wollte hier lebend wieder herauszukommen lies mich das Licht der Sonne wieder kurz lächeln. Vielleicht würden ich und Rahel wieder in Sicherheit sein und ein normales Leben führen können.